Ralph Hartmann

DAS VORGEHEN DER NATO GEGEN MILOSEVIC AUS FRIEDENSPOLITISCHER SICHT

In den frühen Morgenstunden des 1. April 2001, exakt zum Auslaufen eines US-amerikanischen Ultimatums, wurde Slobodan Milosevic, bis zum 5. Oktober des Vorjahres Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, verhaftet. Seitdem befindet er sich im Belgrader Zentralgefängnis in einer 4,5 mal 3 Meter großen Einzelzelle in Untersuchungshaft. Beschuldigt wird er der Veruntreuung von Staatsgeldern und des Amtsmißbrauchs, eine Anklageschrift existiert bisher nicht. Milosevic hat unmittelbar nach seiner Inhaftierung alle Anschuldigungen in einer handschriftlichen Beschwerde zurückgewiesen. Laut einer Erklärung seines Anwaltes Toma Fila vom 5. Juni haben bisher alle Zeugen trotz auf sie ausgeübten Druckes keine Milosevic belastenden Aussagen gemacht. Der Anwalt erwartet deshalb neue Beschuldigungen.

Seit seiner Inhaftierung hat Milosevic die Zelle, deren 4. Wand, einem Raubtierkäfig ähnlich, aus einem Metallgitter besteht, nur einmal, am 12./13. April, wegen akuter Herzbeschwerden, Beschädigung von Blutgefäßen und drohendem Infarkt für einige Stunden verlassen dürfen. Nachdem ein 12-köpfiges Ärzte- Konsilium eine Einweisung in ein Krankenhaus verfügt hatte, wurde er aufgrund des Druckes aus Regierungskreisen und nach einer weiteren umstrittenen Untersuchung in der Militärmedizinischen Akademie - drei Ärzte des Konsiliums verweigerten die Unterschrift - für haftfähig erklärt und mit hohem Fieber in seine unbeheizte Zelle zurückgebracht. In einem gemeinsamen Appell schätzten 20 namhafte Ärzte, allesamt Abgeordnete der Bundesskupstina, den Gesundheitszustand von Milosevic als besorgniserregend ein und verlangten eine umgehende Behandlung in einer spezialisierten medizinischen Einrichtung außerhalb des Gefängnisses. Anfang Juni wurde diese Forderung auch von der Interpellationskommission der Bundesskupstina unterstützt.

In den NATO-Staaten wurde die Verhaftung von Milosevic lebhaft begrüßt und seine Auslieferung an das Internationale Tribunal zur Verfolgung von Kriegsverbrechen für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag gefordert. In Jugoslawien selbst ist die Auslieferung strittig. Unter massiven Druck der USA, Deutschlands und anderer NATO-Staaten wird ein "Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Tribunal in Den Haag" vorbereitet, das selbst von Belgrader Regierungsmitgliedern als "Auslieferungsgesetz" bezeichnet wird. Die Sozialistische Partei Serbiens verlangt, daß sich ihr Vorsitzender außerhalb der Gefängnismauern verteidigen kann, und wendet sich entschieden gegen eine Auslieferung an das Haager Tribunal. Auch international formiert sich Protest - am entschiedensten in den slawischen Ländern und hier wiederum in Rußland, Bjelorußland und in der Ukraine. In Rußland haben, um nur ein Beispiel zu nennen, 24 herausragende Persönlichkeiten eine Erklärung über die Gründung eines gesellschaftlichen Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic verabschiedet. Diese hat inzwischen die Unterstützung von 92 von 130 Mitgliedern des Oberhauses des russischen Parlamentes gefunden. Ein ähnliches Komitee war am Rande des 1. Europäischen Friedenskonvents in Berlin gegründet worden. Seine Ausstrahlung ist steigerungsfähig. Die mehrjährige Dämonisierung des Expräsidenten zeigt Wirkung, selbst unter entschiedenen Gegnern des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien.

So ist denn zu fragen: Was kümmert eigentlich die Kriegsgegner, die Friedensbewegung die NATO-Treibjagd gegen Milosevic, seine Verhaftung, seine Haft, die drohende Auslieferung an das Haager Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunal? Oder kurz: Was kümmert uns eigentlich Milosevic? Und ebenso kurz die Antwort: Sehr viel, mehr als die meisten annehmen - auch die, die meinen, die Verhaftung von Slobodan Milosevic sei im Rahmen der "Wahrnehmung der legitimen Befugnisse einer demokratisch legitimierten Regierung" geschehen und eine Auslieferung an den Haager Gerichtshof müsse eine "Entscheidung des Volkes" sein und nicht "auf Druck von außen erfolgen".

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht um Schuld oder Unschuld des ehemaligen serbischen und jugoslawischen Präsidenten, es geht nicht um die Person Milosevic, es geht um den "Fall Milosevic". In den Wirren und Schrecken der von außen geschürten innerjugoslawischen Konflikte und Bürgerkriege, in der zehnjährigen Tragöde des Zerfalls der früheren jugoslawischen Föderation haben unzählige Menschen, Serben und Kroaten, Moslems und Albaner, Montenegriner und Roma, Frauen, Männer und Kinder anderer nationaler Zugehörigkeit unermeßliches Leid erfahren. Keiner der politisch Verantwortlichen in der zusammengebrochenen Föderation und in den daraus hervorgegangenen neuen Staaten kann von sich behaupten, in diesem Grauen ohne Fehl und Tadel gehandelt zu haben, frei von jeglicher Schuld zu sein. Das gilt gewiß auch für Slobodan Milosevic, der zum Zeitpunkt des offenen Ausbruchs der innerjugoslawischen Krise an der Spitze Serbiens stand und zu denen gehörte, die bis zuletzt für den Erhalt des im Feuer des Zweiten Weltkrieges, im Befreiungskampf gegen die Hitlerwehrmacht entstandenen jugoslawischen Föderation, bestehend aus 6 Republiken, eingetreten war.

Wie heißt es doch sinngemäß im Johannes-Evangelium? Wer frei von jeglicher Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Auch Slobodan Milosevic wird diesen Stein ganz gewiß nicht werfen können. Aber was ist seine Schuld und die vieler anderer politischer Akteure im jugoslawischen Bürgerkriegsgeschehen im Vergleich zu der, die die auf sich geladen haben, die sich in die innerjugoslawischen Konflikte und Bürgerkriege unter Verletzung von Grundnormen des Völkerrechts eingemischt und diese geschürt haben, die von außen künstliche Kräfterelationen geschaffen und das furchtbare Blutvergießen verlängert haben, die aktiv daran mitgewirkt haben, das größere ehemalige Jugoslawien zu zerschlagen und das kleiner gewordene mit einer gewaltigen Luftarmada überfallen und in 78 Tagen mehr Sprengstoff abgeworfen haben als während der vier Jahre des Zweiten Weltkrieges in dem damals wesentlich größeren Jugoslawien gezündet wurde. Was ist die mögliche Schuld der Person Milosevic im Vergleich zur Schuld von Clinton, Schröder, Blair, Scharping, Fischer, Solana und der anderen von einem Belgrader Bezirksgericht wegen schwerer Kriegsverbrechen zur jugoslawischen Höchststrafe von 20 Jahren Zuchhaus Verurteilten? Sie haben zur propagandistischen Absicherung ihrer Einmischungs- und Aggressionspolitik Milosevic zum "pathologischen Genius des Bösen" aufgerüstet und zum "anderen Hitler gescheitelt", um ihn jetzt zur Rechtfertigung eigener Untaten vor ihr eigenes Tribunal in Den Haag zu bringen.

Nicht die Person Milosevic, der von der NATO geschaffene "Fall Milosevic" sollte die Friedensbewegung, sollte all jene kümmern, denen Völkerecht und Gerechtigkeit am Herzen liegen. Dafür sprechen viele Gründe, drei davon seien genannt:

Erstens, die Forderung nach Auslieferung von Slobodan Milosevic beruht auf einer Anklage, die das Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunal während des Bombenkrieges am 27. Mai 1999 erhob - kurz nach dem NATO-Raketenangriff auf das Dragisa- Misovic-Krankenhaus im Belgrader Stadtteil Dedinje und kurz vor der Bombardierung des Stadtzentrums der Bergarbeiterstadt Aleksinac. Diejenigen, die für diese und zahllose andere Kriegsverbrechen, für den Mord an Tausenden von jugoslawischen Zivilisten und Soldaten verantwortlich sind, erheben Anklage gegen das jugoslawische Staatsoberhaupt. Die Angreifer, die wider allgemeines und humanitäres Völkerrecht handelten, fordern die Auslieferung des damaligen Präsidenten des angegriffenen Staates. Der Gewalttäter erhebt Anklage gegen den Geschädigten, der Vergewaltiger zerrt die Vergewaltigte vor Gericht! Ein größerer Hohn auf die Gerechtigkeit, die die Grundlage jedes nationalen und internationalen Rechtes bilden sollte, eine groteskere Umkehr aller Rechts- und Moralbegriffe sind nur schwer vorstellbar.

Doch damit nicht genug. Der ehemalige Präsident Jugoslawiens, des Opfers des NATO-Überfalls, soll nicht irgendeinem neutralen Gericht überstellt, sondern einem Tribunal ausgeliefert werden, das unter dem Druck der NATO installiert wurde, die es personell ausstattet und finanziert. Wer erinnert sich nicht an die erhellenden Worte des NATO-Sprechers Jamie Shea, der noch während der Luft-Attacken am 16. Mai 1999 zur Möglichkeit einer Anklage des Paktes durch das Tribunal erklärte: "Die NATO ist die Freundin des Tribunals. (...) Es waren die NATO- Länder, die das Geld für die Einrichtung des Tribunals bezahlt haben, wir stellen die Mehrzahl der Geldgeber."1

Unter Völkerrechtlern ist das Tribunal zu Recht umstritten. Geschaffen wurde es auf der Grundlage der am 25. Mai 1993 angenommenen Resolution 827 des Weltsicherheitsrates. Bei ihrer Annahme berief sich der Rat auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. So weit, so gut. Weniger gut ist allerdings die Tatsache, daß der Sicherheitsrat damit seine von der Charta festgelegten Befugnisse überschritt. Kapitel VII regelt bekanntlich die Vollmachten des Rates hinsichtlich der internationalen Sicherheit. Fragen der Rechtsprechung werden davon in keiner Weise erfaßt. Kein Staat dieser Erde hat der UNO Strafhoheit übertragen und nach geltendem Völkerrecht ist der Sicherheitsrat in keiner Weise befugt, Verfassungen anderer Staaten außer Kraft zu setzen und internationale Gesetze zu erlassen, mit denen er sich diese Strafhoheit durch eigene Beschlüsse aneignet. Nebenbei bemerkt, ist das auch der Grund, weshalb seit Jahren Verhandlungen über die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes geführt werden, der nicht zufällig auf den hartnäckigen Widerstand der USA und deren strikte Ablehnung, eigene Staatsbürger internationaler Strafgerichtsbarkeit zu unterstellen, stößt. Offenkundig sind die USA nur dann bereit, einem ständigen internationalen Strafgerichtshof zuzustimmen, wenn er von Washington beherrscht wird, der pseudo-juristischen Absicherung einer "humanitären Interventionspolitik" gemäß der Neuen NATO-Strategie dient und USA-Bürger von seiner Jurisdiktion ausgeschlossen bleiben. Für einen solchen Gerichtshof trägt das Haager Tribunal Modellcharakter.

Ausgerechnet der Staat, der sich jeglicher internationaler Strafgerichtsbarkeit entziehen will, der in Vietnam - um nur das gravierendste Beispiel aus einer langen Kette von Aggressionen und Interventionen zu nennen - millionenfachen, bis heute nicht gesühnten Tod unschuldiger Menschen zu verantworten hat, der die Aggression gegen Jugolawien anführte, steht an der Spitze derer, die den ehemaligen Präsidenten des überfallenen Landes vor Gericht stellen wollen. Das widerstandslos hinzunehmen, hieße nichts anderes als vor hegemonialer Willkür zu kapitulieren.

Zweitens, Druck und Erpressung sind Markenzeichen imperialistischer Politik. Nirgendwo in Europa sind sie seit der Zerschlagung des Dritten Reiches so schamlos offen eingesetzt worden wie gegen Jugoslawien und insbesondere gegen Serbien. Mit würgenden Sanktionen wurde ein ganzes Volk nahezu zehn Jahre lang als Geisel genommen. Mit militärischen Drohungen und Ultimaten wurde Belgrad im tragischen, aber innerjugoslawischen Kosovo-Konflikt zu immer neuen Zugeständnissen zu Lasten seiner staatlichen Souveränität gepreßt - solange, bis in Rambouillet die Grenze der Belastbarkeit erreicht und für die NATO der Vorwand für den Luftkrieg geschaffen war. Nach dem Krieg wurde die erpresserische Politik nahtlos fortgesetzt: Aufhebung der politischen und ökonomischen Sanktionen erst dann, wenn in Jugoslawien "der Diktator" Milosevic, gern gebrauchtes Synonym für die Herrschaft der Sozialistischen Partei, gestürzt und durch die "demokratische Opposition" ersetzt wird. Als das mit massiver ausländischer Unterstützung und mit den zu einer Volksbefragung über die Fortdauer oder Beendigung der Sanktionen umfunktionierten Wahlen vom 24. September 2000 und dem nachfolgenden Sturm auf das Gebäude der Bundesskupstina erreicht war, konzentrierte sich der Druck endgültig auf die Forderung nach Verhaftung und Auslieferung des gestürzten Präsidenten.

Unverhüllt stellten die USA den neuen Regierenden in Belgrad das Ultimatum, Slobodan Milosevic bis zum 31. März 2001 zu verhaften und auszuliefern, anderenfalls könne das mit Sanktionen gequälte, von NATO-Raketen zerstörte Land nicht mit einer amerikanischen Soforthilfe von 50 Millionen Dollar und dem damit verbundenen Zugang zu Weltbank, Internationalem Währungsfonds und überlebensnotwendigen neuen Krediten rechnen. Die serbische-Regierung wies das Ultimatum zurück und ließ Milosevic exakt am letzten Tag der gestellten Frist verhaften.

Die ultimative Forderung Washingtons nach präzise terminierter Auslieferung von Milosevic bei Strafe der Verweigerung von Finanzhilfen, in denen Professor Wolfgang Richter "ein Zeichen für eine weitere Verwilderung des Völkerrechts"2 sah, erzwang die Verhaftung des Expräsidenten und machte diese zugleich zu einem Schmierenstück, wie es es auf der an politischen Tragödien und Komödien reichen Belgrader politischen Bühne noch nicht zu bewundern war.

Der Präsident Jugoslawiens, Vojislav Kostunica, befand sich zum Zeitpunkt der Verhaftung seines Vorgängers außer Landes, über das Vorgehen des serbischen Innenministeriums war er nicht informiert worden und bezeichnete es später als "unbedacht und unbeholfen". Der Ministerpräsident Serbiens, Zoran Djindjic, zeigte sich uninformiert. Nach eigener Aussage wußte er nichts von der Verhaftung und sah in den ersten dramatischen Stunden mit seinem Sohn Luka im Fernsehen den aufregenden Film "Der Gladiator". Der erste, fehlgeschlagene Zugriff der Justiz erfolgte durch eine Einsatzgruppe des Innenministeriums, die ohne Haftbefehl - dieser wurde erst tagsdarauf ausgefertigt - aber schwerbewaffnet und wie Geiselnehmer strumpfmaskengetarnt in die Residenz des Expräsidenten eindrang. Die von der Armee gestellte kleine Leibgarde schlug den nächtlichen Angriff zurück, was den Bundesminister des Inneren, Zoran Zivkovic, später vom Versuch eines kleinen Militärputsches und die Medien gar von der Gefahr eines Bürgerkrieges sprechen ließ. Ungeachtet der fehlgeschlagenen Festnahme, die alle Anzeichen eines versuchten Kidnappings trug - immerhin haben die USA dafür eine Belohnung von 5 Millionen Dollar ausgeschrieben - meldeten jugoslawische Medien, Politiker und anschließend die Weltagenturen die Inhaftierung des "Diktators". Während im fernen Washington Richard Holbrooke das jubelnd kommentierte und erklärte, daß die USA mit Druck alles erreichen könnten, zeigte sich Milosevic seinen vor der Residenz versammelten Anhängern. Insgesamt 36 Stunden währten die Auseinandersetzungen um die Verhaftung - zwischen jugoslawischen Präsidenten und serbischen Ministerpräsidenten, zwischen Armee, Polizei, Innenministerium und Geheimdienst - bis sich Slobodan Milosevic nach langen Verhandlungen und Vorlage des Haftbefehls ins Belgrader Zentralgefängnis begab und dem Haftrichter vorgeführt wurde. Seine politischen Widersacher - in der Zwickmühle zwischen einer noch breiten Front der Verhaftungs- und Auslieferungs-Gegner und dem erbarmungslosen Druck der NATO-Häscher - hätten ihn scheinbar am liebsten tot gesehen. So wurde vom serbischen Innenminister Dusan Mihajlovic auch verbreitet, Slobodan Milosevic habe in seiner Residenz erklärt, daß man ihn lebend nicht ins Gefängnis bringen werde. In Wahrheit soll er laut einem Augen- und Ohrenzeugen zum Zeitpunkt des martialischen Überfalls seitens der maskierten Einsatzgruppe wörtlich geäußert haben: "Aufrecht habe ich gelebt, aufrecht werde ich auch sterben."

Die Einhaltung des USA-Ultimatums durch die serbische Regierung und die Inhaftierung von Milosevic wurde in den NATO-Staaten bejubelt. Joseph Fischer, bundesdeutscher Außenminister, begrüßte die Verhaftung, bescheinigte, ganz im Gegensatz zum Präsidenten Jugoslawiens, der jugoslawischen Regierung ein "besonnenes Vorgehen" und forderte die Überstellung des Verhafteten an den "Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien".3

USA-Präsident Bush entschied, die in Aussicht gestellten 50 Millionen Dollar freizugeben. Sein Außenminister Powell forderte Belgrad jedoch unmißverständlich auf, mit dem Haager Tribunal "voll zu kooperieren" und Milosevic auszuliefern, anderenfalls sei die Unterstützung Washingtons für die geplante internationale "Geberkonferenz", von der die jugoslawische Regierung umfangreiche neue Kredite erwartet, nicht sichergestellt. Damit waren die Signale auf eine Fortsetzung des erpresserischen Druckes auf Jugoslawien gestellt und seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem Washington, London, Berlin, die NATO oder der Gerichtshof selbst nicht die Auslieferung Milosevics fordern.

Ende Mai 2001 begrüßten die Außenminister der NATO-Staaten auf ihrer Tagung in Budapest ein übriges Mal die Verhaftung von Milosevic und verlangten die Annahme des Gesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Zeitgleich machte Washington seine Teilnahme an der für den 29. Juni vorgesehenen "Geberkonferenz" von der Erfülung von drei Bedingungen abhängig: Annahme des "Auslieferungsgesetzes, Überstellung einer Reihe von auf jugoslawischem Territorium lebenden Personen an das Gericht, Einleitung des Prozesses der Auslieferung von Milosevic.

Die Drohung, Jugoslawien den Geldhahn zuzudrehen, zeigt angesichts einer Gesamtverschuldung von 11 Milliarden Dollar Wirkung. Schon am 30. Mai erklärte der serbische Premier Djindjic: "Wenn dieses Gesetz (über die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal) nicht angenommen wird, so wird es zu einer Krise der Geberkonferenz kommen, auf der die Fragen eines Stand-by-Abkommens, einer Umschuldung und einer Reduzierung unserer Schulden behandelt werden." Damit, so fügte Djindjic hinzu, würde die Bundesrepublik Jugoslawien in eine sehr ernste ökonomische, finanzielle, politische und internationale Krise geraten.4 Wenige Tage später erklärte er in einem Interview mit "El Mundo", daß Jugoslawien Milosevic ausliefern müsse, da es sich den Luxus nicht leisten könne, die erforderliche ökonomische Hilfe zu verlieren.5 Und am 13. Juni erklärte er gar im serbischen Fernsehen: "Der Preis für eine Nichtzusammenarbeit (mit dem Haager Tribunal) ist der Untergang des Landes."6

Trotz dieser innen und außen aufgerichteten Drohkulisse hat die Sozialistische Volkspartei Montenegros, Koalitionspartner der DOS, ihren Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz bisher nicht aufgegeben. Das ist der Grund dafür, daß die Föderationsregierung am 14. Juni den Gesetzentwurf nur in geheimer Abstimmung gebilligt und damit auf den parlamentarischen Weg gebracht hat. Sollte er hier doch noch scheitern, so hat der jugoslawische Innenminister bereits eine Lösung parat. In einem Interview mit dem Belgrader "Radio B92" erklärte er wörtlich: "Es ist besser mit dem Haager Tribunal mit Hilfe eines Gesetzes zusammenzuarbeiten, aber wenn die Not (sprich: der Druck der NATO) dazu zwingt, dann kommt es zur Zusammenarbeit auch ohne Gesetz."7

Die Verrohung der internationalen Sitten setzt sich fort. Das Ausmaß der Folgen für das in Jahrhunderten entstandene internationale Rechtssystem sind noch nicht voll abzusehen. Einen kräftigen Vorgeschmack auf die weitere Ausbildung der von Bush senior bereits 1990 proklamierten "Neuen Weltordnung" gibt das Vorgehen der von den USA geführten NATO gegen Milosevic allerdings. Exemplarisch führt es vor, wie das Recht der Gleichberechtigten, UNO-Charta und Völkerrecht vom Unrecht der Stärkeren, vom Faustrecht abgelöst werden sollen.

Drittens, die Zahl derer, die den NATO-Führern bei der Verfolgung Milosevics legalistische oder gar edle Motive unterstellen, dürfte sich in relativ engen Grenzen bewegen. Zu Recht, denn wer kann schon allen Ernstes annehmen, daß die Verantwortlichen für den Angriffskrieg gegen Jugoslawien nach Recht und Unrecht in den jugoslawischen Bürgerkriegen suchen, daß Bush, Schröder, Blair, Solana, Fischer, Scharping und die anderen Milosevic verfolgen, weil sie solche Wahrheitsapostel und Gerechtigkeitsfanatiker sind oder über Nacht zu solchen geworden sind?

Es geht ihnen um eine Strafaktion, denn die Jugoslawen, die Serben und ihr viermal in höchste Staatsämter gewählter Repräsentant hatten es gewagt, der NATO den Gehorsam zu verweigern. Einer der renommiertesten USA-Wissenschaftler, der Bostoner Professor Noam Chomsky, hat dieses Vorgehen recht drastisch auf den Punkt gebracht, als er dazu das Bild des Mafia-Bosses verwandte: "Wenn jemand kein Schutzgeld bezahlt, dann muß der Mafia-Boss seine ´Glaubwürdigkeit´ wieder herstellen, damit nicht noch andere auf die dumme Idee kommen, den Gehorsam zu verweigern. Was Clinton & Co sagen ist: Es ist notwendig, daß alle genügend Angst vor dem Weltpolizisten haben."8

Nach dem Krieg gegen Jugoslawien, der als Probelauf für die Neue NATO-Strategie bei weitem nicht so glatt und erfolgreich gelaufen ist, wie es sich ihre Autoren vorgestellt hatten, wollen die USA und die NATO im "Fall Milosevic" die Rolle des Polizisten, des Anklägers und des Richters in einem spielen.

Doch das Vorgehen gegen Milosevic ist nicht nur Machtdemonstration und Strafaktion. Die NATO verfolgt in seinem Fall noch andere, sogar nachvollziehbare Ziele. Ihr völkerrechtswidriger Angriffskrieg hat trotz Massenmanipulation - bei allen leider notwendigen Einschränkungen - weltweit Empörung hervorgerufen. Je klarer die Wahrheit über die Vorbereitung des Krieges und die menschenverachtende Kriegsführung ans Licht kam, je überzeugender und faktenreicher die Kriegslügen widerlegt wurden, desto kläglicher fielen die Versuche aus, den Angriffskrieg zu verteidigen. In Bezug auf ihren Balkan-Krieg steht die NATO heute trotz ihrer Propaganda-Maschinerie ziemlich nackt da. In dieser Lage, so das Kalkül ihrer Führer, könnten die Überstellung von Milosevic nach Den Haag, ein Schauprozeß und seine Verurteilung Wunder bewirken, die NATO weißwaschen und ihren Krieg im nachhinein legitimieren. Wenn "nachgewiesen" wird, daß Milosevic der Hauptverantwortliche für Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen, Blutvergießen und Krieg ist, dann hat die NATO letztlich doch einen gerechten Krieg für die Menschenrechte geführt. Auf der falschen Seite haben dann die gestanden, die die Aggression verurteilten, die vor der Berliner Gedächtniskirche Tag für Tag protestiert, die von Frankfurt am Main bis an Frankfurt an der Oder demonstriert haben, die in Kassel Maßnahmen gegen den Krieg berieten und beschlossen, die zum Zeichen der Solidarität im Raketenhagel zu ihren Gewerkschaftskollegen nach Jugoslawien reisten, die als Mitglieder der Jury, Ankläger, Zeugen und Gutachter der internationalen Tribunale über den NATO-Krieg wirkten und all die anderen, die gegen den Krieg aufgestanden waren. So würden auf die Anklagebank in Den Haag nicht nur Milosevic gebracht, sondern auch die überfallenen Serben, Jugoslawen und mit ihnen die, die gemeinsam mit ihnen "Schluß mit dem Krieg!" und "Frieden jetzt!" riefen.

So betrachtet, ist Klaus Hartmann, dem Präsidenten der Weltunion der Freidenker, zuzustimmen, wenn er im Vorgehen der NATO gegen Milosevic, ganz gleich, wie man ihn beurteilt, eine Herausforderung der Friedensbewegung sieht.9

Die Friedensbewegten, die sich entschieden gegen den NATO-Krieg stellten, die auf Tribunalen in Berlin, New Yorck und an vielen anderen Orten die Verantwortlichen des schweren Verstoßes gegen geltendes zwingendes Völkerrecht schuldig sprachen, können nicht schweigend und tatenlos zusehen, wenn die NATO mit Hilfe des "Falles Milosevic" den Versuch unternimmt, die Kriegsursachen zu verfälschen, den Krieg doch noch zu legitimieren und damit wiederholbar zu machen. Für die Friedensbewegung ist das ganz gewiß eine außerordentlich schwierige Aufgabe - angesichts der Manipulation von großen Teilen der Öffentlichkeit und der fortdauernden Dämonisierung des Ex-Präsidenten, der Vielschichtigkeit der innerjugoslawischen Krise und der unterschiedlichen Auffassungen und Erkenntnisse zur Rolle, Verantwortung und Schuld ihrer Protagonisten. Nicht leichter wird diese Aufgabe auch durch den Umstand, daß in Jugoslawien die politischen Gegner von Milosevic die Regierungsgeschäfte übernommen haben, die nach bewährtem Muster politischer Strafverfolgung alles daran setzen, das gestürzte Regime der Sozialistischen Partei zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Hinzu kommt, daß den Jugoslawen unter dem Druck der NATO nahezu tagtäglich eingehämmert wird, die Überstellung von Milosevic sei eine internationale Verpflichtung, ohne deren Erfüllung es für das serbische Volk keinen Ausweg aus der ökonomischen Misere, ja keine Zukunft gäbe.

Wahrlich, dem erpresserischen Vorgehen der NATO im "Fall Milosevic" und den damit verbundenen Absichten Paroli zu bieten, ist kein leichtes Unterfangen. Aber, so darf man fragen, wann schon war das Eintreten für friedliche internationale Beziehungen, für Recht und Gerechtigkeit, gegen NATO- und Medienmacht eine leichte Aufgabe?


Der Autor: Ralph Hartmann, früher Botschafter der DDR in Jugoslawien, machte die vorliegenden Ausführungen auf der Beratung der deutschen Sektion des Europäischen Friedensforums (European Peace Forum) am 16. Juni 2001 in Berlin. Von ihm erschien kürzlich "Die glorreichen Sieger: die Wende in Belgrad und die wundersame Ehrenrettung deutscher Angriffskrieger, Berlin 2001. Zuvor veröffentlichte er "Die ehrlichen Makler: die deutsche Außenpolitik und der Bürgerkrieg in Jugoslawien - Eine Bilanz", Berlin 1999.


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