Eberhard Schultz

WELTWEIT BESTRAFEN?

Ein faszinierender Gedanke: die großen und kleinen Diktatoren, Kriegsverbrecher und Folterknechte aller Länder hinter Gitter zu bekommen und durch einen weltweit anerkannten Gerichtshof abgeurteilt zu sehen. Endlich wären die jahrzehntelangen Bemühungen internationaler Menschenrechtsorganisationen, allen voran amnesty international, von Erfolg gekrönt. Faszinierend - vielleicht. Aber realistisch? Oder eher Wunschtraum eines säkularisierten "Jüngsten Gerichts" im dritten Jahrtausend n. Chr.? Bedrohliche Verheißung eines grassierenden "Menschenrechtsimperialismus"?

Das ambitionierte Projekt des internationalen Strafgerichtshofs, das nach jahrelangen Vorarbeiten vor allem von Nichtregierungsorganisationen 1998 in Rom von einer größeren Zahl von Staaten beschlossen wurde (s. den Beitrag von Wolfgang Kaleck in Ossietzky 9/2001), nimmt immer konkretere Formen an; der Entwurf eines Statuts mit 91 Artikeln (mehr als 50 Seiten), einer Art Strafgesetzbuch mit acht umfangreichen Artikeln (48 Seiten), einer Art Strafprozeß- und Beweisordnung mit 22 Regeln (100 Seiten) harren der Umsetzung. Zwar gibt es inzwischen etwa 140 Unterzeichnerstaaten, der Gerichtshof kann aber erst eingerichtet werden, wenn 60 Staaten den Vertrag ratifiziert haben; dies ist erst in 28 Staaten geschehen (Stand März 2001), darunter Deutschland. Die USA haben das Statut nach langem Zögern kürzlich unterzeichnet, gleichzeitig aber wichtige Änderungen vorgeschlagen, u.a. die Möglichkeit, daß ein einzelnes Mitglied des UN-Sicherheitsrats per Veto Untersuchungen und Strafverfolgung verhindern kann.

Skepsis scheint also angebracht, nicht erst seit der spanische Untersuchungsrichter Garzon verlauten ließ, nach Chiles Diktator Pinochet nun auch Kubas amtierendes Staatsoberhaupt Fidel Castro verfolgen zu wollen, und nachdem die Chefanklägerin des Haager Ad-hoc-Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunals erste Erfolge bei der Verfolgung des früheren jugoslawischen Ministerpräsidenten Milosevic verzeichnen kann, den die dortigen Behörden unmittelbar vor Ablauf eines mit finanzieller Erpressung verbundenen Ultimatums der USA inhaftierten.

Es könnte sich herausstellen, daß die Triumphgesänge, die die Verhaftung des chilenischen Diktators Pinochet begleiteten, voreilig waren, wird er doch voraussichtlich nicht als Kriegsverbrecher den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen, sondern als freier Mann seinen Ruhestand genießen; voreilig vielleicht auch, weil schon damals absehbar war, daß das eigentliche Ziel nicht Pinochet ist und schon gar nicht die Hauptschuldigen hinter Pinochet, also die CIA und die US-amerikanische Regierung, sondern Revolutionäre, die wie Castro für die nationale und soziale Befreiung ihrer Völker kämpfen.

Internationale Strafjustiz ist nichts Neues. Historische Vorläufer gibt es gerade bei uns. Also müssen die historischen Erfahrungen berücksichtigt und die konkreten Bedingungen und Interessen des gegenwärtigen Projekts kritisch bewertet werden.

Die schlimmsten Verbrechen des vorigen Jahrhunderts sollten in den internationalen Kriegsgerichten von Nürnberg und Tokio geahndet werden, die auf Betreiben der Alliierten, also der Anti-Hitler-Koalition, gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Arbeit aufnahmen. Tatsächlich haben sie eine Reihe der wichtigsten Kriegsverbrecher in gründlich vorbereiteten, aufsehenerregenden, im wesentlichen fairen Verfahren verurteilt und so ihren Beitrag zur Bewältigung der größten staatlich organisierten Massenmorde in der Geschichte der Menschheit geleistet. Mit Beginn des Kalten Krieges wurden die weiteren Verfahren jedoch verschleppt und kamen - wie die gegen die Deutsche Bank, Dresdner Bank u. a. - nicht mehr zustande. Zu lebenslanger Haft verurteilte Kriegsverbrecher wurden schnell begnadigt und freigelassen. Die USA scheuten sich nicht einmal, international gesuchte Kriegsverbrecher in ihren staatlichen Dienst zu stellen.

Christopher Simpson weist in seiner umfassenden wissenschaftlichen Studie "Der amerikanische Bumerang: NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA" (New York und Wien 1988) anhand offizieller Quellen der US-Regierung, des Außenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des FBI und der Geheimdienste, insbesondere des nationalen Sicherheitsrates, der CIA usw. nach, in welchem Ausmaß ehemalige Nazis und Kollaborateure mitbestimmend für den Kalten Krieg waren. Er zeigt auf, wie es zunächst der Army überlassen blieb, für die tägliche Betreuung tausender "Emigranten-Guerillas" der CIA zu sorgen. Simpson schreibt: "Hier tauchten auch Exilagenten unter, die für die sogenannte ‚Organisation Gehlen´ - hervorgegangen aus dem Geheimdienst der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg -, die CIA oder den militärischen Geheimdienst der USA arbeiteten. So war es der amerikanische Geheimdienst, der eine Truppe von ehemaligen Waffen-SS- und Wehrmachtssoldaten... finanzierte und bewaffnete." In den folgenden Jahrzehnten hätten die USA "ähnliche subversive Emigrantenprogramme auf die ganze Welt ausgedehnt und intensiviert". Operationen mit Veteranen der Waffen-SS seien "zum Vorbild tausender anderer Geheimoperationen der USA" geworden.

Ebenso wenig wie Kriegsverbrechen der alliierten Siegermächte im Zweiten Weltkrieg - z. B. die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki - waren die späteren der USA in Korea und Vietnam oder Frankreichs in Algerien jemals Gegenstand der internationalen Strafjustiz. Eine erste öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit US-Verbrechen in Vietnam fand in den sechziger Jahren statt. Höhepunkt war das internationale Russell-Tribunal unter Vorsitz von Jean Paul Sartre. Die Lelio-Basso-Stiftung führte diese Tradition mit einer Reihe weiterer Tribunale fort. Die symbolische Verurteilung der Kriegsverbrechen und Kriegsverbrecher entfaltete zeitweilig große politische und moralische Wirkung, eine tatsächliche Strafverfolgung oder gar Bestrafung der Verantwortlichen konnte daraus nicht resultieren.

Demgegenüber wurden in den neunziger Jahren sogenannte Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunale zu Jugoslawien und Ruanda eingerichtet, allerdings auf fragwürdiger Grundlage, nämlich auf Drängen Madeleine Albrights durch den US-dominierten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und nicht, wie vom damaligen UN-Generalsekretär gefordert, durch einen "internationalen Vertrag, ausgearbeitet und anerkannt von den Mitgliedsstaaten, denen volle Souveränität zugestanden wird". Der völker- und menschenrechtlich engagierte frühere US-Justizminister Ramsay Clark kritisierte: "Durch das gezielte Vorgehen mit Ad-hoc-Tribunalen und der Anklage wegen Völkermord gegen einzelne Gegner erreichen sie (die USA) deren internationale Isolierung, üben auf deren eigene Länder Druck aus, sie von der Macht zu entfernen, korrumpieren und politisieren die Justiz und benutzen den Anschein des neutralen internationalen Rechts, um Gegner als Kriegsverbrecher zu verurteilen und zu bestrafen und selbst als Vorkämpfer des Rechts dazustehen."

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich bereits eine Tradition grenzüberschreitender Strafjustiz entwickelt. So erhob, um ein Beispiel zu nennen, der Generalbundesanwalt 1988 (im Rahmen des ersten "Terrorismusverfahrens" gegen Anhänger einer ausländischen Befreiungsbewegung) Anklage gegen einen PKK-Führer wegen eines angeblichen Tötungsdelikts an einem Kurden im Libanon, nachdem er kurz zuvor die PKK zum "Hauptfeind der inneren Sicherheit" der BRD erklärt hatte. Das Oberlandesgericht Düsseldorf, das seine Zuständigkeit zunächst nicht für gegeben hielt, wurde vom Bundesgerichtshof eines Besseren (?) belehrt und mußte über das Tötungsdelikt im Libanon Beweis erheben, weil ein Fall der "stellvertretenden Strafrechtspflege" vorliege.

Seit einigen Jahren erhebt der Generalbundesanwalt Anklagen gegen Jugoslawen, vor allem Serben, den er anlastet, in Jugoslawien an anderen Jugoslawen Verbrechen des Völkermords begangen zu haben. Inzwischen klagt er Jugoslawen auch wegen anderer Kapitalverbrechen an. Etliche dieser Verfahren endeten mit hohen Strafen, bestätigt vom Bundesgerichtshof.

Demgegenüber hat der Generalbundesanwalt eine von mir in der ersten Hälfte der neunziger Jahre im Auftrage von ParlamentarierInnen und Menschenrechtsorganisationen vorgelegte Strafanzeige gegen bundesdeutsche Betriebe und Behörden wegen Beihilfe zum Völkermord an den Kurden in der Türkei nicht zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens angenommen, weil der "erforderliche Anfangsverdacht" fehle - ähnlich wie er später die Strafanzeigen gegen verantwortliche Regierungsmitglieder und Generäle wegen des unerklärten Angriffskriegs gegen Jugoslawien abgelehnt hat.

Schon diese wenigen Beispiele - oder auch die Strafverfolgung früherer DDR-Hoheitsträger wegen der Tötungsdelikten an der Grenze - zeigen die Fragwürdigkeit internationaler Strafjustiz. Allzu leicht wird sie im Sinne hegemonialer Interessen zur Kriminalisierung des politischen Feindes instrumentalisiert. Auf sie scheint also zu passen, was der große Rechtslehrer Otto Kirchheimer als wesentliches Merkmal politischer Justiz analysiert hat und was Ingo Müller in seiner Untersuchung der NS-Justiz so zusammengefaßt hat: "Recht reduziert sich für sie weitgehend auf einen Kanon von Rechtstechniken, einschließlich derer, die im ‚Dritten Reich´ - zum Teil auch schon früher - zur Vernichtung des ‚Feindes´ entwickelt worden waren."

Aber, könnte man einwenden, gerade das soll ja durch einen wirklich unabhängigen internationalen Gerichtshof auf neutraler Grundlage vermieden werden. Wir müssen uns also genauer ansehen, unter welchen konkreten Bedingungen der geplante internationale Strafgerichtshof arbeiten wird.

MENSCHENRECHTSIMPERIALISMUS

Der geplante Internationale Strafgerichtshof soll Völkermord und eine Reihe schwerer Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschheit (bei uns meist fälschlicherweise "gegen die Menschlichkeit" übersetzt) ahnden. Dafür sind detaillierte Regelungen ausgearbeitet worden. Vergeblich sucht man in dem Regelwerk jedoch die Bestrafung des Staatsterrorismus. Auch Embargo und Sanktionen, die das Leben der Zivilbevölkerung bedrohen, werden nicht unter Strafe gestellt, ebensowenig Bombenangriffe aus der Luft - entgegen dem Votum des früheren US-amerikanischen Justizministers Ramsay Clark, eines engagierten Menschen- und Völkerrechtlers, der aufgrund der Erfahrungen mit der US-Blockade Kubas, dem Embargo gegen den Irak und der wirtschaftlichen Abschnürung Jugoslawiens gefordert hat, solche schweren Kriegsverbrechen ausdrücklich zu sanktionieren.

Fragwürdig ist auch die zu erwartende Praxis der Strafverfolgung. Supranationale Polizeibehörden, die der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfügung stehen würden, sind nicht vorgesehen und auch schwer vorstellbar. Wie schon bei dem Ad-hoc-Tribunal gegen Jugoslawien wird diese Behörde also auf die polizeiliche Zuarbeit einzelner Staaten angewiesen sein. Bezeichnenderweise verlangte die Chefanklägerin Del Ponte in einem Appell "an alle NATO-Mitgliedsstaaten, mit der Lieferung von Beweismaterial über im Kosovo begangene Verbrechen dem Strafgerichtshof zu helfen" (FAZ vom 4.10.1999). Da fragt sich, ob die Rechtsprechung eines solchen Tribunals mehr sein will und sein kann als die Fortsetzung oder Legitimierung des NATO-Krieges mit nichtmilitärischen Mitteln.

Aber nicht nur das offensichtlich einseitig politisch motivierte Vorgehen der Chefanklägerin, sondern auch die Verfahrensregeln fordern zur Kritik an dem Ad-hoc-Tribunal heraus. Dafür stichwortartig einige Beispiele: Eine Anklage kann "im Interesse der Gerechtigkeit" geheimgehalten werden, so daß der Beschuldigte nicht weiß, wogegen er sich verteidigen muß; das Gericht kann Verteidigungsanwälte ablehnen oder ihre Arbeit unterbrechen, wenn sie sich seiner Meinung nach "aggressiv" verhalten; die Anklage kann mit Zustimmung der Richter der Verteidigung den Zugang zu bestimmten Dokumenten, Fotos und anderen Beweisgegenständen verweigern und darf die Quellen von Beweismitteln vor der Verteidigung geheimhalten.

1994 und 1995 erhielt das Kriegsverbrechertribunal von der US-Regierung 700 000 Dollar in bar und Computer im Werte von fünf Millionen Mark (während bekanntlich die auf internationalen Verpflichtungen beruhenden Beiträge der USA an die Vereinten Nationen in Milliardenhöhe zurückgehalten werden), von der Rockefeller-Foundation 50 000 Dollar und 150 000 Dollar von dem Börsenspekulanten George Soros, der zur selben Zeit die wichtigste albanische Separatistenzeitung im Kosovo finanzierte. Soros ist auch Gründer und Finanzier der "Coalition for International Justice", aus der viele Juristen des Tribunals kommen. Es wäre naiv zu glauben, der geplante International Criminal Court (ICC) werde von derartigen Abhängigkeiten und Rahmenbedingungen frei sein.

Welche realen Interessen stehen hinter dem ICC-Projekt? Der Völkerrechtler Norman Paech hat in einer historischen Studie aufgezeigt, daß die Berufung auf die Menschenrechte der Tradition christlicher Missionierung bei der kolonialen Unterwerfung asiatischer, afrikanischer und lateinamerikanischer Länder folgt und jetzt, nach einer Phase der Dekolonialisation, dazu dient, die Rekolonisierung weiter Teile der drei Kontinente zu begründen (in Widerspruch, Juli 2000). Paech schreibt zusammenfassend: "Lieferte die ‚europäische Zivilisation´ im 19. Jahrhundert das ideologische Unterfutter für die Kolonisierung der Welt, so erfüllen heute die europäischen Menschenrechte den gleichen Zweck für die ‚humanitäre Globalisierung´ der neuen Weltordnung. Sie sind der Kern der ‚europäischen Wertegemeinschaft´. Werden sie lediglich zu einer europäischen Grundrechtscharta verarbeitet und für Europas Bürgerinnen und Bürger auch mit einem Klagerecht versehen, so könnte das kaum Widerspruch provozieren. Wenn sie jedoch offensiv gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker gestellt und dessen Vertreter gleichzeitig als ‚Feinde der individuellen Menschenrechte´ denunziert werden (...), so ist die Botschaft klar. Bot das Selbstbestimmungsrecht die Legitimation für die Dekolonisation, müssen die Menschenrechte nunmehr für die Rekolonisierung herhalten ... Ein Narr, wer in der Wertegemeinschaft die Menschenrechte vom Erdöl trennt."

Diese nach dem Jugoslawienkrieg auf den Begriff "Menschenrechtsimperialismus" gebrachten Interessen schlagen offenbar auch auf das ICC-Projekt durch, das in vielen Punkten mit dem bisher vorherrschenden Völkerrechtsverständnis bricht, wie der Jurist Peter Koch in einer noch unveröffentlichten Arbeit "Die humanitäre Intervention, der internationale Strafrichter und das Völkerrecht" umfassend darlegt. Koch erinnert daran, daß internationale Konventionen zum Schutz von Menschenrechten wie die Völkermordkonvention oder die Anti-Folter-Konvention zwar wechselseitige Staatenverpflichtungen begründen, aber keine Interventionsermächtigungen. Auch der Verfassungsrechtler Erhard Denninger warnt daher ausdrücklich vor dem ebenso naiven wie gefährlichen Ruf nach dem Strafrichter und verweist in diesem Zusammenhang auf die Helsinki-Schlußakte, die ausdrücklich "jede Form der bewaffneten Intervention oder die Androhung einer solchen Intervention" gegen einen anderen Teilnehmerstaat ausschließt.

Die Befürworter der internationalen Strafjustiz müssen daher auf einen vorgeblichen "Wandel des Völkerrechts" setzen und dabei mehr oder weniger offen das geltende Völkerrecht verletzen. Die Behauptung, derartige "Tribunale bringen Rechtsstaatlichkeit zurück nach Ruanda und auf den Balkan", wie Stefan Wäspi, Staatsanwalt beim Jugoslawien-Tribunal, Den Haag, sie in seinem Festvortrag auf dem 51. Anwaltstag in Berlin vorgetragen hat, ist schon deshalb widersinnig, weil sich der Begriff Rechtsstaatlichkeit auf die innere Verfaßtheit eines Staates bezieht. Die bisherigen Erfahrungen belegen das Gegenteil dessen, was Wäspi behauptet.. Gerade die gegenwärtige Entwicklung im NATO-Protektorat Kosovo zeigt, daß dort alles andere geschieht als die Herstellung demokratischer rechtsstaatlicher Zustände.

Die fundierte Kritik zahlreicher Autoren an dem (unerklärten) Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien als eklatanter Verletzung des geltenden Völkerrechts - insbesondere der UN-Charta - soll hier nicht wiederholt werden. Treffend wurde schon während des Krieges, am 31.5.1999, in der FAZ formuliert: "Das geltende Recht wird gebrochen unter Berufung auf einen künftigen, erst noch zu schaffenden Rechtszustand - im Falle der NATO eines von ‚westlichen Werten´ geprägten Weltstaats unter Führung Amerikas, der zur Ahndung internationaler Delikte in der Lage ist."

Die geltende Völkerrechtsordnung, welche die Idee des "gerechten Krieges" zunächst unter christlichen Staaten geächtet, also die "humanitäre Intervention" verboten und später in der Haager Landkriegsordnung zur Kriegsvermeidung, im Briand-Kellogg-Pakt von 1929 und weiteren Kriegsverboten bis hin zur UN-Charta ihren allgemeinverbindlichen Ausdruck gefunden hat, ist nicht erst durch den Jugoslawienkrieg der NATO bedroht, nicht in erster Linie durch partielle Verletzung, sondern vor allem durch Projekte wie das ICC, das nach Kochs Worten den "Menschenrechtsimperialismus zur vorherrschenden Völkerrechtslehre, Ideologie und Praxis machen soll".

Koch faßt zusammen: "Der im Aufbau befindliche ständige internationale Strafgerichtshof unterscheidet sich vom Jugoslawien-Tribunal vor allen Dingen dadurch, daß er die Aufgaben des Ad-hoc-Tribunals ständig wahrnehmen wird. Die Vorstellung von einem unabhängigen internationalen Strafgerichtshof ist der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung fremd und unter machtpolitischen Gesichtspunkten abwegig. Keine Macht der Welt könnte die USA und andere führende NATO-Staaten dazu zwingen, ihre höchsten Vertreter und Amtsträger der Jurisdiktion eines landesfremden Gerichtes auszuliefern. Die Einrichtung eines ständigen internationalen Strafgerichts ist ein weiterer Schritt auf dem Weg, der mit den ad-hoc-Tribunalen begonnen wurde. Er soll dem Eingriff in die Hoheitsgewalt souveräner Staaten den Schein von Legalität und der Verletzung der staatlichen Integrität der betroffenen Länder, bis hin zu klassischen Militäraktionen oder echten Kriegen wie dem Jugoslawienkrieg, den Anschein von Polizeiaktionen geben. Der ständige Strafgerichtshof ist daher letztlich in Fortsetzung des jetzigen Jugoslawientribunals die institutionalisierte Form der humanitären Intervention und das Pendant zur (ständigen) Interventionsarmee."

Wie man hört, hat Amnesty International in den letzten Jahren die Errichtung des ICC zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht. Die Gefangenenhilfsorganisation täte gut daran, sich auf ihre ursprünglichen Aufgaben - vor allem auf den Kampf gegen die Folter an politischen Gefangenen - zu konzentrieren. Ein Internationaler Strafgerichtshof wird die Grund- und Freiheitsrechte, für die sich ai engagiert, nicht schützen können, wenn er gleichzeitig die schlimmsten Kriegsverbrechen des NATO-Bombartements in Jugoslawien oder zukünftiger "humanitärer Interventionen" ungesühnt lassen und sogar zu deren nachträglicher Rechtfertigung dienen soll.

Die Menschenrechte werden mißbraucht und verhöhnt, wenn imperialistische Staaten sie instrumentalisieren, um Länder des Trikont, vor allem die, die Bodenschätze (Erdöl) besitzen und nicht billig hergeben wollen, als "Schurkenstaaten" zu kriminalisieren und der militärischen Intervention gegen diese Länder den Schein der Legalität zu geben. Der geplante Internationale Strafgerichtshof wird unter den gegenwärtigen Bedingungen zwangsläufig der Rekolonialisierung und dem "Menschenrechtsimperialismus" dienen, ob seine Förderer aus den Menschenrechtsorganisationen wie ai das wollen oder nicht. Und er wird das geltende Völkerrecht unterminieren.

Solange ein solcher Gerichtshof nicht wirklich und vollständig unabhängig ist, solange er nicht über einen eigenen Untersuchungs-, Ermittlungs- und Vollzugsapparat verfügt, solange die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen nicht geschaffen und durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen garantiert sind, so lange kann vor einem solchem Projekt nur gewarnt werden.

Daß es gerade in Deutschland unkritische Unterstützung findet, sollte uns gerade vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte zu denken geben: Der Deutsche hat schon immer besonders gern Richter spielen wollen - und zwar regelmäßig gnadenlos gegen den (politischen) Feind. Demgegenüber hat die bundesdeutsche Strafjustiz trotz aller Bemühungen um dem "demokratischen Rechtsstaat" es nicht geschafft hat, auch nur einen einzigen NS-Blutrichter jemals zur Verantwortung zu ziehen. In Zukunft wird es wohlfeil sein, zur Absicherung jeweiliger hegemonialer Interessen sich als Gralshüter des internationalen Strafrechts aufzuspielen, solange man nicht offen als Propagandist der weltweiten Interventionsarmee auftritt.


Aus: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft - Jrg. 2001/ Heft 11 u. 12


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